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Deine Story zur Kunst: Gewinnerinnen Preisverleihung: Gewinnerinnen des Schreibwettbewerbs "Deine Story zur Kunst" 2024 (c) P

Deine Story zur Kunst 2024

Auch dieses Jahr hat das Paula Modersohn-Becker Museum zum kreativen Schreibwettbewerb Deine Story zur Kunst aufgerufen:
Schüler:innen, im Alter von vierzehn bis neunzehn Jahren, hatten bis zum 27.09.2024 Zeit, eine selbstverfasste Geschichte zu einem ausgewählten Werk von Paula Modersohn-Becker oder Bernhard Hoetger einzureichen.

Die Idee zu diesem Schreibwettbewerb entstand auf Initiative des Bremer Galeristen Dr. Birk Ohnesorge, der auch die Preisgelder für die drei Erstplatzierten gestiftet hat.
Inspiratorischer Ausgangspunkt der Geschichten sollte ein Bild von Paula Modersohn-Becker oder ein Kunstwerk von Bernhard Hoetger sein. Hierfür standen den Jugendlichen drei Kunstwerke zur Auswahl: „Lee Hoetger vor Blumengrund“ (1906) von Paula Modersohn Becker, sowie zwei Werke von Bernhard Hoetger „Le Hâleur (Der Schiffszieher)“ (1902) und „Paracelsus“ (1936).
Insgesamt wurden einundvierzig Geschichten eingereicht, von denen sich sechsundzwanzig auf Lee Hoetger; zehn auf den Schiffszieher und fünf auf Paracelsus beziehen!


Nun stehen die Gewinner:innen fest und ihre Stories zur Kunst gibt es hier im Blog zum Nachlesen!


Der 1. Preis ging an Finja Buchholz (18 Jahre) für die folgende Geschichte:

Unter der Last der Erinnerungen

Seine Augen öffneten sich. In seiner Hand lag ein neues Tau. Die rauen Fasern kratzen über seine Haut, bevor er sie zur Faust schloss und seine Füße gegen den plötzlichen Ruck in den Boden stemmte. Gegen die Spannung ankämpfend drehte er sich ächzend einmal um seine eigene Achse und wollte gerade den ersten Schritt flussaufwärts gehen, als er innehielt. Er neigte den Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen, bevor er sie schloss und schnell wieder öffnete. Doch das Bild vor ihm blieb dasselbe. Sein Blick lag tatsächlich auf einer Person, die keine zehn Meter vor ihm stand und mit hochgezogenen Augenbrauen und offenem Mund zwischen ihm und dem schmalen Einmaster hin und her sah. Er hatte noch nie jemand anderes hier gesehen.

„Wer bist du?“ Seine Stimme kratze sich seinen kaum genutzten Hals hinauf. Einzelne Strähnen braunen Haares umrahmten ein rundes Gesicht, aus dem kastanienbraune Augen ihn anblinzelten. Der Mund schloss sich blitzschnell und die Hände der Person flogen zu den Trägern eines grell gelben Rucksacks. Einen Moment lang spielte sie dort an ein paar Schnallen herum, bevor sie anscheinend genug Mut gesammelt hatte, um den Mund wieder zu öffnen.

„Ich bin Mara“, erklärte die Person. Eine Frau wie es sich anhörte. „Ist das hier der Fluss der Erinnerungen?“ Für einen Moment herrschte Stille.

„Du stehst im Weg“, überging er schließlich ihre Frage und machte einen Schritt auf sie zu. Das Tau spannte gewohnt brennend gegen seine Schulter und er begann, das Schiff mit kräftigen Schritten den Fluss hinaufzuziehen.

Einen Moment stand Mara einfach nur da und sah ihm ungläubig dabei zu. „Wer bist du?“ Ihre vorherige Frage schien sich in Luft aufgelöst zu haben, denn schon begann sie neue zu stellen. „Und warum warst du eben noch wie aus- wie aus Stein und dann kam dieses Boot den Fluss hinauf und plötzlich lag das Seil in deiner Hand und dann hast du dich bewegt und-“ Ihre Stimme legte sich über seine Gedanken und er verspürte zum ersten Mal eine Abneigung gegenüber etwas anderem, als dem Horizont vor ihm aufblühen.

„-und was genau ist es, was du hier-“

„Ich bin ein Erinnerungszieher. Mehr bin ich nicht, mehr tue ich nicht.“

Mara kam zum Stehen und starrte erneut zwischen ihm und dem Schiff hin und her. Er zog seine Last weiter, ohne auf sie zu achten. „Also ist er es! Es ist der Fluss der Erinnerungen!“, rief sie. Unglaube und Freude überschlugen sich in ihrer Stimme. „Aber was hat es mit dem Schiff auf sich?“

Er wusste nicht, warum er antwortete, doch das Tau in seiner Hand knarzte und um das verhasste Geräusch zu übertönen, hörte er sich selbst erneut reden. „Das Boot ist eine Erinnerung.“ Schnelle Schritte waren hinter ihm zu hören, bevor kurz darauf wieder ein grelles Gelb in seinem Augenwinkel auftauchte. „Aber warum ziehst du das Boot diesen Fluss hinauf, wenn es eine Erinnerung ist?“ „Weil es meine Arbeit ist. Menschen erinnern sich erst, wenn ich ihre Erinnerung ans Ende des Flusses gezogen habe.“

„Aber es gibt Milliarden Menschen! Wie soll jeder sich an etwas erinnern, wenn du hier ganz alleine die Erinnerungen ziehst?“ Wieder trat Stille ein.

„Das ist nicht mein Problem“, murmelte er schließlich und wechselte das Tau von der einen auf die andere Schulter. „Ich sehe schon, du willst nicht mit mir reden“, sagte Mara leicht genervt.

„Nicht wirklich“, stimmte er ihr zu.

„Gut, ich hätte ja auch nicht gedacht, dass ich diesen Fluss überhaupt finde“, murmelte sie leise, bevor sie sich wieder laut an ihren Nebenmann wand. „Kannst du mich dahin bringen, wo die Schiffe, also die Erinnerungen herkommen?“ Die Frage berührte einen Gedanken in ihm, über den er schon viel zu oft nachgedacht hatte. Er riskierte einen Blick in ihr Gesicht und sah dort eine Hoffnung strahlen, die genau das Gegenteil zu seinen eigenen Gefühlen widerspiegelte. Für einen Moment wusste er nicht, ob sie ihm oder er sich selbst mehr leidtat.

„Selbst, wenn ich wollte, ich kann nicht“, antwortete er. „Warum?“, schoss sie sofort zurück.

Für kurze Zeit hörte man nur das Scharren der Erde unter ihren Füßen und die Wellen, die versuchten, das Boot mit sich zu ziehen. Mara wollte gerade wieder zum Sprechen ansetzen, doch er kam ihr zuvor.

„Du hast gefragt, warum ich wie Stein war, bevor das Boot gekommen ist“, sagte er bedächtig. Es war schwer etwas zu erklären, das noch nie Erklärung gebraucht hatte. Es gab nie jemanden, der hätte fragen können. „Ich ziehe die Boote und wenn es keine Boote gibt, gibt es mich auch nicht.“

„Bist du kein Mensch?“, fragte Mara verwirrt. Ihre Augen schienen auf einmal jeden Winkel seines Körpers durchdringen zu wollen. „Ich bin ein Erinnerungszieher“, antwortete er und zog noch etwas kräftiger am Tau. Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. „Das klingt traurig. Willst du nicht sehen, wo die Schiffe herkommen?“ In diesem Moment spürte er, wie die Spannung des Seils nachließ und war dankbar dafür, dass dieses Gespräch bald beendet sein würde. „Ich bin ein Erinnerungszieher“, war seine Antwort. Das Seil rutschte von seiner Schulter. Er spürte, wie sein Körper sich versteifte. Der Fluss verschwamm mit dem Horizont und führte das Boot den Rest des Weges an sein Ziel.

Dann sah er nichts mehr.

Seine Augen öffneten sich. Doch anstelle eines rauen Taues spürte er eine weiche Wärme gegen seine Handfläche pressen. Sein Blick traf auf eine andere Hand, die in seiner größeren lag und folgte dieser, bis seine Augen auf die von Mara trafen. Er sah sie fragend an. Sie lächelte strahlend zurück.

„Ich dachte, wenn du nur mit Erinnerungen zum Leben erwachen kannst und ein Mensch ja eigentlich aus Erinnerungen besteht, könnte ich dich vielleicht auch aufwecken.“ Er drehte seinen Kopf in Richtung Fluss und sah gerade noch, wie der Mast des Schiffes, welches er gerade noch gezogen hatte, hinter dem Horizont verschwand.

„Du könntest mir jetzt zeigen, wo die Erinnerungen herkommen. Ich muss nur so lange deine Hand halten“, lächelte Mara und begann ihn den Fluss hinunterzuziehen. „Ich bin Erinnerungszieher. Ich muss die Schiffe ziehen“, protestierte er und versuchte seine Beine gegen den Boden zu stemmen, doch anders als die Schiffe ließ Mara sich nicht von seiner Kraft beeinflussen.

„Du bist die ganze Zeit an diesem Fluss. Du kannst nichts Anderes machen. Das ist kein Leben. Du könntest mir helfen und zum ersten Mal etwas Neues erleben.“ Ihre Worte schienen sich durch seine Zweifel zu fressen, bis kaum noch welche übrig waren. Ehe er sich versah, fühlte er sich selbst nicken.

„Wofür brauchst du meine Hilfe?“, fragte er und begann neben ihr herzugehen.

„Ich suche eine Erinnerung. Eine ganz bestimmte und super wichtige, ok? Und weil ich nicht weiß, wonach ich suchen muss, kannst du mir bestimmt helfen“, erklärte sie. Ihre Hand schmiegte sich gegen seine und er drückte sie zustimmend. „Und du brauchst diese Erinnerung, damit du dich an sie erinnerst?“, fragte er.

Mara sagte nichts, doch drückte seine Hand zurück und er nahm dies als Antwort. Sie liefen einige Zeit lang in Stille. Er verspürte eine nie dagewesene Aufregung, während er dem Wasser dabei zu sah, wie es mit ihm, anstelle von gegen ihn floss. Die Wärme von Mara schien sich von ihren Händen aus in seinem ganzen Körper auszubreiten und er genoss zum ersten Mal das Gefühl, seine Beine zu bewegen, ohne dass die Muskeln gegen die Strömung ankämpfen mussten und ohne den Schmerz eines Taues auf seiner Schulter. Plötzlich brach Maras Stimme die Stille. „Du hast mir gar nicht gesagt, wie du heißt“, sagte sie und sah ihn erwartungsvoll an. „Ich habe keinen Namen“, erklärte er, Blick noch immer auf den Fluss gerichtet. „Hat nicht jeder einen Namen?“ „Ich bin ein Erinnerungszieher“, sagte er und drehte sich endlich zu ihr um. „Du solltest aber einen haben“, sagte sie bestimmt und überlegte kurz. „Was ist mit Ben? Nicht zu kompliziert und er passt zu dir?“, verkündete sie schließlich. „Ben?“, fragte er und testete das Wort. Nach einem Moment nickte er. Ein neues Gefühl bereitete sich in seiner Brust aus. Er wusste nicht, wie er es in Worte fassen sollte, also drückte er erneut ihre Hand und hoffte, sie würde die ungesagte Botschaft irgendwie verstehen.

Sie verfielen erneut in Schweigen, doch diesmal nicht für sehr lange, denn ehe sie sich versahen, standen sie vor einem leicht abfallenden Abhang. An seinem Ende verband sich der Fluss mit einer riesigen Wasserfläche, von der keiner von ihnen sagen konnte, ob es ein See oder doch ein Meer war. So weit das Auge reichte, war die Wasseroberfläche mit Schiffen und Booten in allen Größen, Farben und Formen bedeckt. Das Ende war nicht zu sehen, aber was Ben bemerkte, war, dass noch mehr Flüsse, als nur der seine in diesem Ort zu münden schienen. Bevor er verarbeiten könnte, dass er tatsächlich den Ursprungsort aller Erinnerungen vor sich sah, zog Mara bereits an seiner Hand und sie liefen den Hang hinab. „Ich habe immer gedacht, jeder Mensch sei selbst der Mittelpunkt seiner Welt“, murmelte sie. „Aber unsere Erinnerungen kommen alle vom selben Ort.“ Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte und bevor er etwas sagen konnte, wechselte Mara bereits das Thema.

„Wie erkenne ich, welches Schiff welche Erinnerung ist?“, fragte sie ohne lange zu warten. Überrascht von ihrer fokussierten Entschlossenheit antwortete er: „Das Schiff hat immer etwas mit der Erinnerung zu tun.

Je älter die Erinnerung, desto älter das Schiff und schwerer. Oder-“ „Ich verstehe schon“, unterbrach Mara ihn sofort und zog ihn auf einen Steg, von dem er jetzt erst bemerkte, dass er zwischen den Schiffen hindurch über das Wasser verlief.

Holz knarzte und das Schwappen der Wellen war unter ihren Füßen zu hören, während er sie durch das Labyrinth aus Stegen und Schiffen zog. Er ließ sie und sah sich fasziniert die vielen unterschiedlichen Erinnerungen an und begann zum ersten Mal darüber nachzudenken, was für Erinnerungen diese Schiffe wohl repräsentierten. Er begann zu zweifeln, dass es überhaupt möglich war, eine einzelne Erinnerung an diesem Ort zu finden, doch plötzlich stoppte Mara ruckartig und zeigte auf ein mittelgroßes Motorboot. Es war rot und dem Anschein nach wahllos mit Aufklebern verziert. „Das ist es!“, rief sie triumphierend. „Es trägt sogar seinen Namen!“ Ihre Freude schien sich bei diesen Worten zu verdunkeln, aber Ben bemerkte davon nichts, als er die Buchstaben am hinteren Teil des Bootes las. Dort stand der Name „Markus Liebers“ geschrieben.

„Könntest du aus meinem Rucksack die Flasche in der vordersten Tasche herausholen, bitte?“, fragte sie und drehte ihren Rücken leicht zu ihm. Sie schien seine Hand nicht loslassen zu wollen, wofür Ben sehr dankbar war und drehte stattdessen ihren Rucksack so, dass er ihn einhändig leicht öffnen konnte. Sofort traf seine Hand auf eine große Plastikflasche und zog sie hervor. Das Etikett wurde entfernt und im Inneren befand sich eine durchsichtige Flüssigkeit.

„Was ist das?“, fragte er. „Brennspiritus“, zischte Mara und ihr Blick verfinsterte sich. „Mein Vater sollte immer noch bei mir sein, aber dann kam dieser scheiß Krebs und jetzt ist er weg.“ Sie zeigte auf das Boot. „Das sind die schlimmsten Erinnerungen meines Lebens und ich will, dass sie verschwinden.“

Sie griff nach der Flasche, doch er zog blitzschnell seine Hand zurück und streckte sie in die Höhe. Der Größenunterschied zwischen ihnen ließ nicht zu, dass Mara die Flasche erreichte und ihrer Kehle entfuhr ein frustrierter Schrei. „Gib mir die Flasche, oder ich lasse deine Hand los!“, schrie sie ihn an. Der Gefühlswechsel traf Ben so plötzlich, dass er automatisch seine Hand um die ihre fester zudrückte und einen Schritt von ihr zurück machte. „Mara, es gibt einen Grund, warum Erinnerungen existieren. Du solltest-“ „Mir doch egal, was du denkst!“ Sie folgte seinen Schritten und versuchte weiter nach der Flasche zu greifen. „Du weißt doch gar nicht, wie das ist, wenn die Person, die eigentlich für dich da sein sollte, einfach aufhört zu existieren! Du hast keine Vorstellung davon, wie sich diese Momente anfühlen, in denen du dir einfach nur wünschst, dass er wieder da ist und dich sehen könnte!“

„Ach ja?“, fragte er. Er spürte, wie sich etwas Schweres in seinem Magen zusammenbraute, das plötzlich herausgelassen werden wollte. „Stimmt, ich kenne das nicht, weil ich nie jemanden hatte, der für mich da war. Niemand weiß, wer oder was ich bin. Du wusstest es auch nicht.“ Maras Hand, die sich um seine eigene verspannt hatte, wurde plötzlich schlaff und sie nahm einen vorsichtigen Schritt zurück. Tränen hatten begonnen, über ihre Wangen zu laufen. „Ich will doch nur-“ „Du hast mich nur dazu benutzt, um hierherzukommen und eine Erinnerung zu zerstören, weil du nicht mit dieser leben willst.“ Seine Stimme wurde weicher und er konnte in ihrem Blick sehen, dass die Wut sie langsam verließ. „Du hast es selbst gesagt: Was ich habe, ist kein Leben. Ich bin ein Erinnerungszieher. Aber du bist ein Mensch. Diese Erfahrungen sind ein Teil von dir. Du kannst nicht so tun, als hättest du nie gelebt.“ Sie sahen sich tief in die Augen. Schließlich floss die Anspannung aus Maras Körper und sie fuhr sich mit der Hand über die nassen Wangen. „Ich will doch nur, dass es nicht mehr wehtut“, schluchzte sie leise. „Ich weiß, wie schwer Erinnerungen sein können. Aber immer, wenn ich sehe, wie die Schiffe auf den Horizont zu fahren, denke ich, dass das alles sich irgendwie lohnen muss. Wozu gäbe es sie oder mich sonst?“

Sie nickt und sah stumm zu Boden. Während sie in ihren Gedanken verloren war, schob Ben die Flasche zurück in ihren Rucksack. „Wir sollten zurückgehen“, sagte er und schloss den Reißverschluss.

Mara sah auf ihre Hände, die immer noch eng umschlungen zwischen ihnen lagen. „Wenn ich dich loslasse, dann wirst du wieder zu Stein“, meinte sie und sah ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Trauer an. „Ich bin ein Erinnerungszieher“, murmelte Ben. Er sah sie an und zum ersten Mal fand er, dass er mehr sein wollte. Sie schien zu verstehen, was er dachte. „Ich werde wiederkommen und einen Weg finden, dir ein eigenes Leben zu geben“, sagte sie entschlossen und begann langsam in Richtung Ufer zu gehen. Von all den neuen Gefühlen, die er heute zum ersten Mal erlebt hatte, war die Hoffnung, die dieses Versprechen in ihm auslöste, das Beste.




Bernhard Hoetger, Le Hâleur (Der Schiffszieher), 1902, Bronze, Museen Böttcherstraße, Sammlung Bernhard Hoetger

Bernhard Hoetger, Le Hâleur, 1902, © Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen

Den 2. Preis erhält Friederike Gerken (11. Klasse) für:

DeineStoryZurKunst FriederikeGerken  
   

 


Der 3. Preis geht an Vanessa Riegsinger (17 Jahre) für:

Der Garten

Der Garten. Oh, wie gerne taucht Lee in die Wunder des Frühlings ein, spürt den sanften Wind auf ihrer Haut und lauscht dem Flüstern der Blätter im Wind. Sie liebt es, das weiche Gras unter ihren Füßen zu fühlen, und stellt sich dabei vor, sie schwebe auf Wolken, leicht und frei, fernab von allem. Der Garten war ihre Zuflucht, der Ort, an dem sie sich geliebt und geborgen fühlte. Seit ihrer Kindheit hatte sie eine tiefe Verbindung zu diesem kleinen Paradies. Sie verbrachte hier Stunden, pflanzte, pflegte und sprach mit den Pflanzen, als wären sie ihre einzigen wahren Freunde. Wenn die Sonne unterging, verabschiedete sie sich leise, nur um am Morgen, beim ersten Licht, zurückzukehren. Der Garten war nicht nur ein Ort, er war wie ein Freund, der einzige, der ihr etwas zurückgab.

„Lee! Lee!“ Eine helle Stimme durchbrach die Stille. In der Ferne sah sie eine kleine, fast kindliche Gestalt mit blonden Wuschelhaaren, die auf sie zu rannte. Die Gestalt hielt einen Zettel in der Hand und war außer Atem, als sie schließlich vor Lee stehen blieb. „Viviane, was ist los?“ Lee lächelte amüsiert und erwartete die übliche, viel zu lange Erklärung ihrer lebhaften Freundin.

„Schau dir das an!“ Viviane hüpfte vor Aufregung hin und her und drückte Lee den Zettel fast ins Gesicht. „Hiermit erhalten Sie die Zulassung an der Académie Julian, ab dem nächstenSemester“, las Lee laut, ihre Stimme vor Überraschung leise zitternd. Für einen Moment sagte sie nichts, ihre Augen blieben auf den Worten hängen. Dann sah sie Viviane an, ihre Überraschung vermischte sich mit einem Hauch von Traurigkeit. „Du gehst also nach Frankreich?“ Ihre Stimme war leise, fast tonlos. „Vi... was soll ich denn ohne dich machen? Du weißt doch, ich habe niemanden außer dir.

Viviane schaute sie mitfühlend an, ihre Augen suchten nach den richtigen Worten. „Lee, du hast doch den Garten.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den vertrauten Blick ihrer Freundin erwiderte. Lee nickte langsam, ließ den Blick über die Blumenbeete schweifen. „Ja, du hast recht. Ich sollte mich für dich freuen. Schließlich ist es nicht jedem vergönnt, an einer so renommierten Schule zu studieren.“ Sie versuchte, ihre Worte leichter klingen zu lassen, doch die Schwere in ihrer Brust wollte nicht weichen.

Das Jahr 1910 und erst seit wenigen Jahren war es Frauen überhaupt erlaubt, zu studieren. Für Lee war das allerdings nur eine ferne Möglichkeit. Ihre Zukunft war längst von ihren Eltern festgelegt worden. Etikettenunterricht bis zum 18. Lebensjahr, dann die standesgemäße Heirat, so wie es die Tradition der Familie Hoetger vorsah. Lee war nun siebzehn, und der Tag, an dem sie ihre Freiheit endgültig verlieren würde, rückte näher. Doch es war nicht nur das. Es war der Garten, den sie am meisten vermissen würde, der einzige Ort, an dem sie wirklich sie selbst sein konnte.

Die beiden Freundinnen saßen schweigend im weichen Gras, umgeben vom süßen Duft der Blumen, die Lee über all die Jahre mit Sorgfalt und Liebe gepflegt hatte. Als die letzten Sonnenstrahlen sanft über die Erde glitten und der Abend hereinbrach, erhob sich Viviane. Sie strich ihr Kleid glatt und sah auf Lee herab.

„Bevor ich nach Frankreich gehe, möchte ich noch etwas tun“, sagte Viviane, und ihre Augen funkelten vor Vorfreude. „Ich möchte ein Porträt von dir malen. Hier, in deinem Garten, zwischen deinen Blumen, wo du wirklich du selbst bist.“

Lee runzelte die Stirn und schmunzelte. „Ein Porträt? Vi, du weißt, ich sehe auf Porträts immer aus, als wäre ich eine alte, grimmige Dame.“ Sie lachte leise, doch Viviane ließ sich nicht beirren.

„Ach was, Lee!“, rief Viviane und schüttelte den Kopf. „Ich habe dir doch gesagt, ich möchte eine Erinnerung an dich haben. Stell dir vor, ich vergesse dein Gesicht in Paris und blicke dann auf ein Bild, das nicht mehr wirklich du bist. Also keine Widerrede! Morgen fangen wir an!“ Sie zwinkerte frech, umarmte Lee fest und lief, noch immer lächelnd, dem Sonnenuntergang entgegen, ohne ihr auch nur eine Chance zu lassen, etwas dagegen zu sagen.

Lee beobachtete ihre Freundin aus dem Fenster des Studierzimmers, und wie immer, wenn sie Viviane sah, konnte sie nicht anders, als zu lächeln. Viviane war wie ein Sonnenstrahl, der alles um sich herum erhellte. Ihre Präsenz durchbrach die Monotonie, und jeder in ihrer Nähe fühlte sich plötzlich lebendiger. Doch heute fiel es Lee schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Die Worte ihres Etikettelehrers rauschten an ihr vorbei, wie ein ferner Wind, während sie ihre Gedanken nur um eines kreisen konnte: den Garten und Viviane.

Kaum hatte der Unterricht geendet, eilte sie nach draußen, der Frische des Gartens entgegen. Als sie durch das Gartentor trat, begrüßte sie der vertraute Duft der Blüten und das leise Flüstern der Blätter im Wind. Und da stand Viviane schon, strahlend wie immer, und winkte ihr freudig entgegen. „Lee! Da bist du ja endlich! Ich habe alles vorbereitet“, rief sie mit dieser ansteckenden Vorfreude, die sie immer mit sich trug.

Lee lächelte und trat näher. „Wo soll ich mich hinstellen?“ fragte sie, neugierig auf das geplante Porträt. Viviane ließ ihren Blick über den Garten schweifen, bis sie schließlich auf ein Beet mit farbenprächtigen Blumen und kräftigen Orangenbäumen deutete. „Dort“, sagte sie mit einer fast künstlerischen Ernsthaftigkeit. „Vor dem Beet. Der Kontrast zwischen den Farben und dir... das ist perfekt. Da kann ich dich und das, was du liebst, einfangen.“

Lee stellte sich an den vorgegebenen Platz und spürte, wie die Sonne sanft ihre Haut wärmte, während der Wind sachte an ihren Haaren zog. Viviane begann konzentriert mit den ersten Pinselstrichen, und eine angenehme Stille legte sich über den Garten. Das Rascheln der Blätter, der Duft der Blumen und das leise Summen der Bienen – all das füllte die Stille, als wäre es eine Sprache, die nur die beiden verstanden. Minuten, vielleicht Stunden verstrichen, bis Viviane schließlich mit einem triumphierenden Lächeln verkündete: „Ich bin fertig!“ Sie trat zurück, um ihr Werk zu betrachten, und lehnte den Kopf leicht zur Seite, um das Bild noch einmal zu mustern.

Lee trat neugierig näher und blickte auf das Gemälde. „Die Blumen hast du wirklich wundervoll getroffen,“ bemerkte sie sanft, ihre Augen glitten über die Details der farbenfrohen Blüten. Doch Viviane schnaubte gespielt empört. „Lee, ich habe dich porträtiert, nicht nur deine Blumen!“ Sie lachte und schüttelte den Kopf. Lee sah Viviane an und musste ebenfalls lachen. „Natürlich hast du,“ sagte sie leise, aber ihr Blick blieb auf dem Porträt haften. Dort war sie, inmitten ihrer geliebten Blumen, eingefangen in einem Moment der vollkommenen Ruhe.

Die Zeit schien den beiden Freundinnen wie Sand durch die Finger zu rinnen, viel zu schnell, um sie festzuhalten. Der Tag, den Lee so sehr gefürchtet hatte, war gekommen, Viviane’s Abreise. Heute würde sie fortgehen, nach Frankreich, um ihren Traum zu leben und an der Kunstakademie zu studieren.

Die Sonne hing tief am Himmel, als die Kutsche in der Auffahrt wartete. Das leise Stampfen der Pferde, das Knirschen der Räder auf dem Kies, all das war für Lee wie ein trauriges Lied des Abschieds. Sie stand stumm am Wegesrand, während Viviane ihre Koffer verstauen ließ, ihre Hände nervös ineinander verkrampft. Jeder Moment fühlte sich an wie ein letzter. „Versprich mir, dass du mir Briefe schreiben wirst,“ sagte Lee schließlich, ihre Stimme leise und zitternd, fast flehend. Ihre Augen spiegelten die Traurigkeit wider, die sie nicht in Worte fassen konnte. Viviane drehte sich zu ihr um, ein sanftes, aber schweres Lächeln auf den Lippen. „Natürlich werde ich dir schreiben, Lee,“ sagte sie, ihre Stimme mit einem Hauch von Melancholie. „Ich muss dir doch von allem erzählen. Von Paris, von den Gemälden, den Menschen... du wirst es sein, die all das mit mir erlebt.“ Für einen Moment schien die Welt stillzustehen, als sich die beiden umarmten. Es war keine gewöhnliche Umarmung, sondern eine, die alles umfasste, was Worte nicht sagen konnten. Ein Versprechen, ein Trost – und doch auch ein Abschied, der sich wie ein Messer ins Herz schnitt. „Ich werde dich so vermissen,“ flüsterte Lee, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. „Du bist alles, was ich hier habe.“ „Und du bist alles, was ich mitnehme,“ erwiderte Viviane sanft, ihre Augen glänzten. Ihre Hände zitterten leicht, als sie sich löste und in die Kutsche stieg. Der Moment, in dem die Tür sich schloss, hallte wie ein unheilvolles Echo in Lee’s Kopf. Ein dumpfer Schlag, der alles zu versiegeln schien, was sie festhalten wollte. Die Räder der Kutsche setzten sich langsam in Bewegung, knirschten über den Kies. Lee stand da, unfähig, den Blick abzuwenden. Jede Umdrehung der Räder, jede Entfernung zwischen ihnen fühlte sich an, als würde etwas in ihr zerbrechen, etwas, das sie niemals zurückholen könnte.

Die Jahre vergingen. Lee hatte ihre Freiheit längst hinter sich gelassen, als sie einen wohlhabenden Geschäftsmann heiratete und mit ihm in die Stadt zog. Ihren geliebten Garten, das einzige, was ihr je wirklich am Herzen gelegen hatte, musste sie zurücklassen. Ihr neues Leben war von Etikette, prunkvollen Empfängen und stummen Verpflichtungen geprägt. Die Briefe ihrer Freundin Viviane, die sie anfangs noch mit Freude erwartet hatte, blieben bald aus. Ihr Ehemann, streng und traditionell, untersagte ihr schließlich jegliche Brieffreundschaften. Lee akzeptierte stillschweigend ihr Schicksal als Ehefrau und versank in der Routine eines Lebens, das sich immer weiter von ihr selbst entfernte.

Die Jahre zogen ungnädig an ihr vorbei, und Lee spürte, wie sie Stück für Stück in der Kälte dieser neuen Welt verschwand. Ihr Blick verlor sich oft in der Ferne, als suchte sie nach einem Ort, den sie längst vergessen hatte, etwas, das sie nicht mehr greifen konnte.

Wieder einmal fand sie sich in einer Kutsche auf dem Weg zu einer Gala, eine von vielen, die alle gleich erschienen. Heute war es die Eröffnung eines Museums. Ihr Mann saß schweigend neben ihr, in Gedanken wohl schon bei den Geschäften und den wohlhabenden Bekannten, mit denen er später plaudern würde. Lee hingegen spürte nichts als Leere.

Als sie schließlich das Museum betraten, folgte sie ihrem Ehemann brav durch die Menge, hielt den Kopf gesenkt und lauschte den faden Gesprächen, die sich um Geld und Macht drehten. Die  Worte prallten an ihr ab, und ein dumpfes Gefühl der Beklemmung machte sich in ihrer Brust breit. „Entschuldigen Sie mich“, sagte sie leise und entfernte sich für einen Moment von der Gesellschaft.

Langsam wanderte sie durch die weitläufigen Hallen der Galerie, ihre Augen glitten über die unzähligen Gemälde, die für andere wohl von Bedeutung waren, ihr jedoch nichts sagten. Keine dieser Leinwände vermochte es, in ihr etwas zu wecken, bis sie plötzlich wie angewurzelt stehenblieb. Da war es. Das Porträt. Ihr Porträt. Ihre Hand zitterte leicht, als sie nach vorne trat, als könnte sie den Moment aufhalten, bevor die Erinnerungen sie überfluteten. Es war, als hätte sie die Zeit selbst eingeholt. Vor ihr hing das Porträt von damals, sie, jung und lebendig, inmitten ihres geliebten Gartens. Die Blumen leuchteten in kräftigen Farben, die Orangenbäume wiegten sich sanft im unsichtbaren Wind, und da stand sie, als wäre sie ein Teil der Natur selbst. Die Wärme der Sonne schien aus dem Bild herauszustrahlen und ließ Lees Herz einen Schlag lang stocken.

Ihr Blick wanderte über das Gesicht der Frau auf dem Gemälde. Sie erinnerte sich an die Stunden im Garten, die Erde zwischen ihren Fingern, den Duft der Blüten, die Freiheit, die sie gespürt hatte, als der Wind durch ihr Haar gestrichen war. Und sie erinnerte sich an Viviane. Ihre treue Freundin, die mit diesem einen Bild alles eingefangen hatte, was Lee einst geliebt hatte und nun verloren geglaubt war.

Eine Welle von Emotionen durchbrach die starre Mauer, die sie über die Jahre um ihr Herz gebaut hatte. Sie spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Ihre Finger berührten das kühle Glas, als könnte sie so die verlorene Zeit zurückholen, den Garten, das Leben, das sie einst geführt hatte.

Alles, was sie verdrängt hatte, stürzte plötzlich mit voller Wucht auf sie ein. "Wie konnte ich nur alles vergessen?" flüsterte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. Sie stand noch lange vor dem Bild, viel zu lange, während die Gala hinter ihr weiterging, ohne dass jemand sie vermisste. Es war, als würde die Zeit um sie herum stillstehen, nur sie und dieses Bild, das sie daran erinnerte, wer sie einst gewesen war und wer sie noch immer sein könnte.

In diesem Moment wusste sie, dass der Garten noch immer ein Teil von ihr war. Tief in ihrem Inneren, unter all den Schichten von Etikette und Pflicht, lebte die Frau weiter, die barfuß durch das Gras gelaufen war und mit den Pflanzen gesprochen hatte. Und sie wusste, dass es etwas gab, das sie immer noch liebte.

Der Garten.

 

Paula Modersohn-Becker,  Lee Hoetger vor Blumengrund  
Paula Modersohn-Becker, Lee Hoetger vor Blumengrund, 1906 ©  

 

 

Preisverleihung FinjaBuchholz2
Die Gewinnerin Finja Buchholz unseres Schreibwettbewerbs 2024, Foto: © Museen Böttcherstraße